Der Kampf gegen die Entweder-Oder-Wahrnehmung

Das iPhone-Projekt ist seit Beginn begleitet von kritischen Stimmen, die einer strikten Entweder-Oder-Logik folgen:

In diesem Projekt wird A gemacht, das (notwendige) B geht dadurch verloren.

Diese, ans falsche Dilemma-Argumentationsmuster (siehe Wikipedia oder Biblionetz)  erinnernde Wahrnehmung wiederholt sich in zahlreichen Variationen und es ist bisweilen aufwändig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es nicht um A oder B, sondern um A und B geht:

Im aktuellen iPhone-Projekt in Goldau

  • bewegen sich die Kinder noch immer viel, auch wenn sie iPhones besitzen,
  • wird immer noch mehrheitlich von Hand geschrieben, auch wenn iPhones verfügbar sind,
  • reden die Kinder weiterhin viel miteinander, auch wenn sie einander telefonieren, mailen und instant-messagen können,
  • spielen Schulbücher weiterhin eine grosse Rolle, obwohl iPhones auf dem Pult liegen
  • wird das iPhone während ca. 10-15% der Unterrichtszeit eingesetzt, obwohl es zu 100% verfügbar ist,
  • etc.

Eine Spezialvariante dieser Entweder-Oder-Wahrnehmung findet sich in Leserbriefen zu Projektbeschreibungen. Der Ablauf funktioniert folgendermassen:

  1. JournalistIn fragt nach konkreten Einsatzszenarien
  2. Klassenlehrer oder Projektleiter beschreibt konkrete Einsatzszenarien, meist abschwächend mit „teilweise“, „unter anderem“, „neuerdings auch“.
  3. JournalistIn übernimmt Beschreibung ohne abschwächende Formulierungen in Artikel
  4. Leserbrief kritisiert konkretes Einsatzszenario, weil dabei Wesentliches verloren gehe.

Aktuelles Beispiel: In einem aktuellen Leserbrief an die Luzerner Zeitung steht:

Ich lese folgenden Textabschnitt: «Die Schüler mussten das Vorlesen eines Textes aufnehmen und dem Lehrer per E-Mail zur Benotung schicken. So konnten sie die Version benoten lassen, mit der sie am zufriedensten waren.» Da frage ich mich, ob für die Bildung genug getan wird. Gewisse Fächer – etwa Sprache und Kommunikation – gehören ins Klassenganze. Oft braucht der Schüler ein bisschen Mut, wenn er weiss, dass alle zuhören und der Lehrer eventuell korrigieren muss. Es entsteht eine Stimmung des Miteinanders. Niemand kann sich hinter einem Gerät verstecken. Inzwischen haben viele Kinder Mühe mit Lesen, Rechtschreibung und Textverständnis. Dieses Konsumieren auf Knopfdruck ist nicht fördernd für eine umfassende, nachhaltige Intelligenz. Per Knopfdruck lassen sich Schwächen ausblenden. Damit wächst der Anspruch auf Perfektion. Fühle ich mich nicht von der Gemeinschaft gehalten, kann meine Unvollkommenheit zur Mutlosigkeit und Vereinsamung führen.

Simona Roelly, Malters

Hier wird fälschlicherweise angenommen, dass die Benotung der Vorleseleistung per MP3-Datei das Vor-die-Klasse-Stehen vollständig verdrängt habe. Als regelmässiger Besucher des Unterrichts der iPhone-Klasse kann ich versichern, dass dem nicht so ist. Auch die Schülerinnen und Schüler der iPhone-Klasse halten Kurzvorträge vor der Klasse (teilweise sogar vor zufällig anwesendem Besuch aus dem Ausland) oder rezitieren französische Gedichte. Das persönliche Smartphone hat mindestens in der vorliegenden Projektklasse selten zur Verdrängung bisheriger Praktiken geführt, es ist eine Ergänzung und erhöht die Methodenvielfalt der Lehrperson. Diese Methodenvielfalt passt leider selten in einen Medienbericht. Im vorliegenden Beispiel kann es dazu führen, dass einerseits Schülerinnen und Schüler mehr üben, weil sie eine gute Version abgeben wollen oder es kann auch schüchternen Kindern die Gelegenheit bieten zu zeigen, dass sie in Ruhe durchaus gut vorlesen können. Daneben kann weiterhin geübt werden, auch vor Publikum trotz Nervosität nicht ins Stocken zu kommen.

Ich bestreite nicht, dass durch die Einführung eines neuen Werkzeugs und Mediums nicht Gewichtungen verschoben werden. Wo etwas mehr gemacht oder betont wird, verliert etwas anderes an Bedeutung und Raum. Es ist aber selten ein Entweder-Oder. Schulalltag ist ein Sowohl-als-auch.

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